Volker Heises Buch 1945 fächert in Form einer beeindruckenden Stimmencollage die Ereignisse vom 9. November 1944 bis zum 31. Dezember 1945 in Deutschland auf. Dabei ist das Kriegsende, die Waffenruhe, die je nach Ort zu verschiedenen Zeiten eintrat, zwar ein markanter Einschnitt, doch das Leben floss kontinuierlich weiter – auch in Krieg und Nachkriegszeit.
Eine unsichtbare Erzählinstanz ordnet das Stimmengewirr, das keinem linearen Plot folgt, sondern das Jahr 1945 als einen Strom von Erfahrungen begreifbar macht: NS-Größen, Soldaten, Hitlerjungen und andere Funktionäre, ein Raketenforscher, aber auch Widerstandskämpfer, Verfolgte, Inhaftierte in Konzentrationslagern und Gefängnissen, jüdische Menschen, alliierte Soldaten, Ärztinnen, Schriftsteller, Schülerinnen und Angestellte.
Eingeflochten in diese Vielfalt sind drei Stimmen aus dem Deutschen Tagebucharchiv: Christa Ruffer (DTA 168), das Ehepaar Schaumann (DTA 4952) und Otto Kramer (DTA 277).
Otto Kramer, ein Gestapobeamter, gerät in russische Gefangenschaft. In seinem Tagebuch schildert er die Härten des Lagerlebens sowie – nach seiner Freilassung im August 1945 – das Leben in der russischen Besatzungszone. – Gerhard und Louise Schaumann erleben die Nachkriegszeit getrennt. Er, ein Berliner Angestellter, kehrt nach seiner Inhaftierung durch die Russen in die Hauptstadt zurück, während seine Frau Louise mit den Kindern als Evakuierte in Franken ausharrt. – Christa Ruffer schließlich ist eine 16-jährige Schülerin in Berlin, die über Schule, Freundschaften und Alltag schreibt, aber auch über die amerikanische Besatzung, Politik und den heraufziehenden Hungerwinter.
Alltag und große Politik durchdringen sich in vielen Tagebucheinträgen:
14.8.1945 „Mutti kann das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Und der Winter steht vor der Tür. Eisenhower hat uns sogar schon angekündigt, dass es im Winter sehr schlecht mit Lebensmitteln wird und dass Wohnhäuser keine Kohlen bekommen. Wir wissen alle, was uns bevorsteht. Da habe ich eben beschlossen, dass ich Serviererin bei Mutti (im amerikanischen Kasino) werde. Mir passt es sehr gut, da ich in der Penne doch nicht recht mitkomme.“
Volker Heise
1945
Hoffmann und Campe, Hamburg 2024
ISBN 978-3-455-01734-2