Leben im Jahr 1934 - Paulas Briefkränzl

Gastbeitrag unserer ehrenamtlichen Mitarbeiterin Dr. Gertrud Lütgemeier

Eine Kladde im Schulheftformat, 56 linierte Doppelseiten mit abgerundeten Ecken. – So sieht das „Kränzelbriefbuch“ aus, das im Jahr 1934 unter erst neun, dann elf jungen Mädchen kursiert – von der Post in festgelegter Reihenfolge von einer Schreiberin zur nächsten transportiert, als Beipack begleitet von neun Umschlägen, die bestimmt waren für Inhalte, die einzelnen Teilnehmerinnen persönlich zugedacht waren: Fotos, Filmkarten, Briefmarken, Zeitungsausschnitte, Heftchenromane. Dieses Heft gelangte im Sommer 2021 ins Deutsche Tagebucharchiv. (DTA 5065)

Treu und wahr

„Treudeutsche Mädel“ steht in exakter schwarzer Tuschfrakturschrift auf der Innenseite; auf der nächsten Seite, über einer säuberlich mit Klebewinkeln eingefügten Hundekopf-Postkarte ist zu lesen: „Treu und wahr“ das soll unser Leitwort im 2. Buche sein. Auf den nächsten Seiten folgen, zum Teil mit Fotos versehen, die Steckbriefe der Schreiberinnen, allesamt nach dem gleichen Schema: Name – Geburtsdatum und -ort – „Deckname“ – Beruf des Vaters – Interessen. Damit ist der Vorspann noch nicht zu Ende, denn es folgen auf der Seite 6 noch die „Satzungen“, gefasst in 9 Punkten, von denen die beiden wichtigsten lauten: „3. Jedes Mitglied darf das Br.Kr. nur 3 Tage behalten.“ und: „8. Jedes Mitglied hat mindestens 4 Seiten zu schreiben.“

Paula

Eine Seite weiter geht es dann los mit den Briefen, ergänzt durch zahllose Modezeichnungen und eingeklebte Zeitungsausschnitte mit Fotos von Filmstars. Dieses Heft reiste von Juli bis Dezember 1934 mit der Post mehrfach quer durch Deutschland. Als es vollgeschrieben und sogar noch durch ein paar lose Seiten ergänzt worden war, landete es dauerhaft bei einer der Korrespondentinnen. Denn es gab die Regel, dass diejenige, die das Folgeheft stiftete (für 50 Reichspfennig), das Heft behalten durfte. Tatsächlich steht auf der Innenseite des Heftdeckblatts in dünner Bleistiftschrift ein Name: Paula Warschawska. Das Heft wurde von Juli bis Dezember `34 mit 26 Briefen gefüllt.

Briefkränzchen?

Die „Briefkränzchen“ der dreißiger Jahre waren eine offenbar kurzlebige Modeerscheinung unter jungen Mädchen, vor allem befördert durch den Kult um die Kinostars der Zeit. Die Teilnehmerinnen an einem solchen „Kranz“ kannten sich in der Regel nicht, wurden von einem Kranz zum anderen geworben, und jede Teilnehmerin hatte ihrerseits wieder den Ehrgeiz, ein eigenes „Kränzchen“ zu etablieren. Die Kränzchen nannten sich schlicht „kunterbunte Sammelkiste“ oder – für einen spezielleren Sammlerkreis –„Parole Sport“. Es gibt aber auch das „V.d.A.“-Kränzchen, offenbar für Mitglieder des in den Anfängen der NS-Zeit bei Schülern hoch beworbenen „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“.
Ob es auf staubigen Dachböden zwischen mit Glanzbildchen verzierten Poesiealben noch weitere „Briefkränzchen“ zu entdecken gibt? Ich weiß es nicht. Dieses hier hat die Zeiten überdauert, und dahinter steckt eine besondere Geschichte.

Paula und die anderen

Während die damals auch kursierenden „Rundbriefe“ ehemaliger Klassenkameradinnen oder Studentinnen meistens eine regional und gesellschaftlich homogene Mitgliedschaft haben, stammen die Mitglieder unseres „Briefkränzels“ aus unterschiedlichen Regionen von Deutschland. Sie wohnen in Dresden, Eisenach, Berlin (2), Hamburg, Düsseldorf, Kleve, Geislingen an der Steige und Heidenheim an der Brenz. Nur zwei der Korrespondentinnen leben auf dem Land: Hilde und Paula wohnen in Zaberfeld, einer 800-Seelen-Gemeinde, 23 km von Heilbronn entfernt, die damals durch Weinbau und Landwirtschaft geprägt war. Der soziale Status der Familien der zwischen 1920 und 1922 geborenen Mädchen lässt sich aus den Angaben zum Beruf der Väter eruieren: Apotheker, Studienrat, Kaufmann (2), Baumeister, Stadtinspektor, Gutsbesitzer, Rittergutsbesitzer. Die beiden Mädchen aus Zaberfeld passen nicht so recht ins gutbürgerliche Schema: Hildes Vater ist Dreschereibesitzer und Paula schreibt, ihr Vater sei Pferdehändler.
Es ist zu erwarten, dass die Zeitumstände auch vor einem harmlosen Jungmädchenhobby nicht Halt machten. So beenden Kati, Gertrud, Asta und Helga ihren Brief schon mal mit dem „deutschen Gruß“ oder einem forschen „Heil Hitler!“. Und das höchste Glück für die filmstarbegeisterten Mädchen ist es, den „Führer“ zu sehen, bei einer seiner Fahrten durch die jubelnde Volksmenge. Kati schreibt: Nun will ich euch das Schöne erzählen „ich hab den Führer gesehen“. Ich bin ja so glücklich, Ihr glaubt’s gar nicht“. Und Gertrud antwortet: „Kathi! du hast ja unerlaubtes Glück! Nein sowas, ich beneide dich ganz schrecklich! Aber ich gönne es dir auch, daß du unseren Führer gesehen hast!“

Dies und Das

Ansonsten schreiben die „Mädels“ über dies und das – schließlich müssen jeweils vier Heftseiten gefüllt werden - über Theaterspiel in der Schule, über Ferienreisen und Geburtstagsgeschenke, geben Lesetipps, begutachten ihre Zeichnungen, finden die Liebesfilme „kitschig“ und begeistern sich für ihre Filmstars: „Greta Garbo, finde ich ganz großartig. Ich schwärme für sie genau wie Du.“ Im September schreibt Gisela: „Paula! weißt du was darüber, wo der Name Warschawska“ herkommt? Der klingt so polnisch und du hast so dicke, schwarze Haare, so sieht es wenigstens auf dem Bild aus.“
Darauf Paula: „Gisela! Das ist aber “zandig“ daß du denkst, ich hätte schwarze Zöpfe. Da muß ich lachen. Meine Zöpfe sind immer noch dunkelblond, schwarz wären die doch wenn ich sie färben würde. Und dazu habe ich wirklich keine Lust!“
Asta, Internatsschülerin im feinen „Königin-Luise-Stift“ in Berlin, deren Familie auf einem Gut im ehemaligen Landkreis Bromberg in Polen lebt, geht auf Giselas Frage ein: „Liebe Paula! ich kann mir denken woher dein Name kommt, vielleicht stimmt es auch nicht. Einer Deiner Urahnen wird vielleicht in Warschau (Polnisch Warszawa (sz=sch) gewohnt haben und hat den Namen dann angenommen.“
Gisela nimmt in ihrem nächsten Beitrag den Verdacht über Paulas schwarze Haare kleinlaut zurück: „Auf den Bildern sind wohl alle Haare dunkel oder schwarz, wenn sie nicht ganz hellblond sind. Asta hat uns ja jetzt geschrieben, woher der Name wohl kommt. Dann seid ihr zwei ja Landsleute aus Polen! Du allerdings nur vom Urahn her.“ Und Paula beendet die Diskussion mit einem Satz: „Asta! mit dem Namen wird es so schon seine Richtigkeit haben.“ Und fährt fort mit einer farbigen Erzählung über den „Herbst“ (die Weinlese) in Zaberfeld.

Hintergrund

Was Paula ihren Mitkorrespondentinnen nicht mitgeteilt hat, erfahren wir von Wolfgang Schönfeld, dem Einsender des „Briefkränzels“: Nämlich, dass Paulas Vater Aron Warschawsky seine Familie schon 1932 verlassen hat und in seine Heimat Polen zurückgekehrt ist. Wolfgang Schönfeld erforscht seit Jahren die Archive baden-württembergischer Gemeinden nach Dokumenten zu ihrer jüdischen Vergangenheit. Die Spurensuche des pensionierten Realschullehrers begann in seinem Heimatdorf Zaberfeld. Er hat die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Zaberfeld und das Geschick der letzten noch in Zaberfeld lebenden jüdischen Familien erforscht und dafür gesorgt, dass vor ihren vormaligen Wohnhäusern Stolpersteine verlegt wurden.
In seinem Begleitschreiben zur Übergabe des „Briefkränzels“ an das DTA schreibt Wolfgang Schönfeld: „Paula Warschawsky war ein jüdisches Mädchen, das in Zaberfeld aufwuchs und im Rahmen der „Polenaktion“ im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben wurde – zusammen mit ihrer Mutter Hedwig Warschawsky, die mit einem polnischen Juden verheiratet war. Aus diesem Grund hatte Paula W. die polnische Staatsangehörigkeit und wurde nach Polen abgeschoben. Sie lebte später zusammen mit ihrer Mutter im Ghetto in Warschau und wurde vermutlich von dort nach Treblinka deportiert, wo sie 1942 ermordet wurde."
Wolfgang Schönfeld schrieb mir am 29. Dezember 2021: „Zu Paula: Ich lernte die ehemalige Freundin von ihr kennen – Hilde B. Sie besuchte sie und konnte ihr Vertrauen gewinnen. Nach weiterem Austausch, vertraute sie mir das Briefkränzel an, das sie wahrscheinlich von Paula kurz vor deren Deportation noch bekommen hat.“ Über 80 Jahre hat Paulas weit gereistes „Briefkränzel“ geruht, bis es jetzt wieder zum Leben erweckt worden ist. Wolfgang Schönfeld: „Durch Ihre Mitteilung weiß ich nun, dass es in Emmendingen gewürdigt wird und [..] vielleicht auch anderen Forschern zugänglich gemacht werden kann.“