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Blick in die Transkriptionswerkstatt

Dr. Gertrud Lütgemeier gab einen Einblick in die Transkriptionsarbeit am Beispiel eines Tagebuchs aus dem 19. Jahrhundert, geschrieben von Friedrich S. (sig.3700), einem lutherischen Pfarrer aus Grimma in Sachsen.
Im 19. Jahrhundert schrieb man im deutschen Sprachraum „Kurrent“. Diese Schrift ist schräger als die Sütterlinschrift und hat deutlichere Ober- und Unterlängen. Nun schreibt aber ein Erwachsener selten so, wie er es in der Schule gelernt hat: Seine Handschrift ist – zumal wenn er nur für sich selbst Tagebuchnotizen macht – sehr ausgeschrieben und individuell. Und damit fängt das Problem für die Transkription an.
Eine weitere Hemmung sind Namen und Abkürzungen. Geografische Namen kann man mit Glück manchmal mit Hilfe einer historischen Landkarte entziffern. Bei Eigennamen wird man nur Hinweise finden, wenn die Person irgendwie einmal in der Literatur erwähnt wurde oder in einem von Google Books digitalisierten alten Buch vorkommt. Und bei Abkürzungen hilft nur Intuition! Bei ungewöhnlichen, lokal begrenzt gebrauchten oder veralteten Wörtern hilft der alte Herr Duden, dessen digitale Nachkommen oder das berühmte Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Diese zusätzlichen Informationen bringe ich in den Fußnoten zu meiner Transkription unter.
Wenn man die Notizen eines lutherischen Pfarrers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu entziffern sucht, hilft eine rudimentäre Kenntnis von Bibelsprüchen und Kirchenliedern, denn der Autor begnügt sich mit den Anfangsworten seiner Gebete. Aber auch da ist das Internet behilflich.
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Eine Frage lässt sich nicht unterdrücken: Wozu um Himmels Willen setzt man sich stundenlang vor den Computer, um einen banalen, alten Text les- und verstehbar zu machen? Für mich ist das – nicht immer, aber oft – spannend wie ein Kriminalroman!
Da macht also einer, ein evangelischer Pfarrer, im Jahr 1857 eine Reise, in Sachsen, von Grimma nach Zwickau, Luftlinie 60 Kilometer, mit dem „Lohnwagen“, und ab Kieritzsch mit der zum Glück schon seit 1845 eröffneten Eisenbahn, hat vorher um 5 Uhr noch ein Gemeindemitglied beerdigt, hat sich dann mit vielen Segenssprüchen von seiner Familie verabschiedet, erledigt in Borna auf dem Amt schnell Rentenprobleme für seine Töchter, findet am Umsteigehof seinen verlorenen Regenschirm wieder, unterhält sich unterwegs, wie es sich damals gehörte, mit seinen Mitreisenden, so dass er fast gar nicht zum Studium seiner Akten und zum Gebet kommt, trifft spät nachmittags im Gasthaus in Zwickau ein, hat noch Zeit, einen Brief an seine Frau zu schreiben und auf die Post zu bringen (der Brief war schon am nächsten Abend bei ihr – so schnell ging es damals mit der Post!), um anschließend einen Antrittsbesuch beim Superintendenten zu machen.

Vergleichen Sie  Original und Transkription der Tagebuchseite vom 20. Juni 1857.